Konzeptmusiker Matthew Herbert

"Kontrolle über die Bilder zurückerobern"

Ob menschliche Ess- und Schlafgeräusche oder das Quieken eines neugeborenen Schweines: Es gibt kaum ein Geräusch, das Matthew Herbert nicht schon zu elektronischer Musik gemacht hat. Je experimenteller die Alben der britischen House-Legende werden, desto enger arbeitet er mit der Kunstwelt zusammen. Findet sich dort mehr Raum für Wagnisse als in der Musikbranche?

Sie arbeiten unter mehreren Pseudonymen, darunter Matthew Herbert, Doctor Rockit und Herbert. Wie werden Sie am liebsten angesprochen?
Ich weiß nicht genau. Ich denke aber, dass es sehr sinnvoll ist, mehrere Namen zu haben, weil es wie eine Kostümparty ist. In der einen Minute kann man so tun, als sei man eine Prinzessin, und in der nächsten ist man ein Feuerwehrmann. Ich mag, wie das die Art der Arbeit, die man macht, verändert. Aber vor allem mache ich das alles, um auf eine gewisse Art unsichtbar zu werden. Ich interessiere mich für Ideen und nicht wirklich dafür, als Popstar wahrgenommen zu werden. Oder auch als Mann Es herrscht solch eine Forderung nach Männlichkeit in der Art, wie Arbeiten gemacht werden und wie darüber gesprochen wird,  und ich finde das wenig hilfreich. Es gerät wirklich in den Weg. Ich habe so viele Rezensionen über mich gelesen, deren Autoren gar nichts über die Ideen, Kontexte und Intentionen meiner Arbeit wissen und einfach nur über mich schreiben wollen, dabei bin ich wahrscheinlich der unwichtigste und uninteressanteste Teil des ganzen Prozesses.

Also halten Sie durch die verschiedenen Figuren den Fokus fern von Ihrer Persönlichkeit und gewinnen so eine Art künstlerische Freiheit?
Genau, und dazu noch die Möglichkeit, spielerisch zu sein, Dinge auszuprobieren und verschiedene Risiken einzugehen. Mit einem Großteil meiner Musik versuche ich die Welt zu verändern, aber das kann man ja nicht 24 Stunden am Tag machen. Davon würde man verrückt werden. Also ist es praktisch, andere Figuren zu haben, mit denen man sich eine Auszeit nehmen und einfach Spaß haben kann.

Welche Rolle spielt bildende Kunst in Ihren Arbeiten?
Eine enorm wichtige, vor allem für das neuste Album "A Nude (The Perfect Body)". Mein Großvater war Maler, meine Mutter war Künstlerin, mein Vater hat in seiner Freizeit Kunst gemacht, und ich habe eine Menge Kunst zu Hause und in meinem Studio. Es ist mir wirklich wichtig, wie es in meinem Studio aussieht. Wie sieht das Equipment aus, wie fühlt sich die Umgebung an? Wir leben heutzutage in einer solchen Blase. Die Welt ist ein einziges Chaos, und wir haben einen gefährlichen Zaubertrick erschaffen, der Illusionen um uns herum erzeugt, die das verstecken. Wenn man beispielsweise in einem Londoner Supermarkt herumläuft, wird man keinen Hinweis darauf finden, dass eine Krise im Bezug auf Fischerei, Tierschutz oder Artensterben herrscht. Und weil wir in dieser Blase leben, ist die visuelle Repräsentation unserer Welt, die Bildsymbolik, mit der wir uns umgeben, so wichtig. Ich versuche durch bestimmte Maßnahmen, die Kontrolle über die Bilder um mich herum zurückzuerobern. Beispielsweise, indem ich alle Markennamen aus meinem Studio verbanne und mich mit inspirierenden Ideen und Bildern umgebe – Farben, die ich zuvor noch nie gesehen habe, Gemälde und Skulpturen, die mich überraschen und dazu anregen, über Materialien nachzudenken … Diese Dinge sind wirklich hilfreich und wichtig, um Arbeiten zu schaffen in einer derart verrückten Welt.

Ästhetik für Sie demnach ein Weg, sich von dieser Blase zu distanzieren und Ihrer Arbeit Bedeutung zu verleihen?
Ja, und ich sehe sie zudem als Chance, meine eigene Landschaft zu gestalten. Für mich gibt es zwei Grundaspekte beim Schaffen von politischen Arbeiten. Der erste ist eine Art von Kritik- eine Beschreibung, eine Zusammenfassung oder eine Interaktion mit der Welt um einen herum. Der zweite ist das Schaffen einer Alternative, eine andere Art von Welt, eine die nach vollkommen anderen Grundsätzen funktioniert. Beispielsweise könnte man einen Nachtclub politisch betrachtet als einen sehr gefährlichen Ort sehen. Nichts verändert sich wirklich und jedes Mal, wenn man in einem Club ist, ist man nicht damit beschäftigt, zu protestieren oder an die Regierung zu schreiben. Andererseits könnte man einen Club auch als einen Ort sehen, an dem im Hinblick auf Identität alles möglich ist, an dem Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Klasssen, Sexualitäten und Rassen zusammenkommen. Es ist wichtig, diese beiden Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen - Etwas Positives und Neues zu kreieren, das zugleich tief in der Realität verwurzelt ist.

Sie haben ihr Album "One Club" im Frankfurter Club Robert Johnson aufgenommen. Haben Sie mit dem Album das Ziel verfolgt, das politische Potenzial der Clubszene zu nutzen?
Ja, absolut. Ich denke, dass Clubmusik und die dazugehörige Szene wirklich darin versagt haben, eine bedeutungsvolle politische Bewegung zu gründen. Als ich anfing, House zu hören, wurde er auf kostenlosen Outdoor-Raves gespielt, niemand wurde dafür bezahlt, jeder machte aus Liebe zur Musik mit, es war sehr klassenlos. Dann verbot Margret Thatcher, in der Öffentlichkeit House zu spielen, also zog das Ganze um in Nachtclubs. In Großbritannien war Dance-Musik sehr lange eine politische Angelegenheit gewesen. Aber seitdem ist die einzige Form von Realität, die in der Clubszene präsent ist, geprägt  von Unternehmen. Red Bull beispielsweise ist mittlerweile überall. Es herrscht also diese firmen- und markengeprägte Form der Realität, diese Blase, aber wir haben keine realen Geschichten. Niemand macht mal für eine Sekunde die Musik aus und sagt: "Jeder von uns muss wählen gehen" oder so. Millionen von Menschen weltweit versammeln sich jedes Wochenende an letzten Endes öffentlichen Orten, und daraus hat sich nie eine kollektive politische Stimme geformt. Dabei stimmen die meisten Menschen, die in solche Clubs gehen, wahrscheinlich in vielen wichtigen Punkten überein – dass man einander respektieren sollte, dass man Kreativität und Kollaboration wertschätzen sollte, dass man tolerant sein sollte und so weiter.

In letzter Zeit sind Sie näher an die Kunstwelt herangerückt und kollaborierten mit Künstlern und Galerien. Denken Sie, dass Musik sich auf diesem Wege von der Rolle als kommerzialisiertes Hintergrund-Medium distanzieren kann, die sie heute häufig einnimmt?
Praktisch gesehen ja. Außerdem ist es ein guter Weg, bezahlt zu werden, insofern als dass es noch Geld in der Kunstwelt gibt und interessanten Ideen Wert beigemessen wird. Für Tonträger hingegen wird so wenig Geld gezahlt, dass das Medium wirklich an Wert verloren hat. Die Kunstwelt bietet mehr Möglichkeiten und finanzielle Mittel, um Ideen zu präsentieren – das ist ein kleiner Punkt, aber ein wichtiger. Auf einer ästhetischen Ebene befindet sich Musik meiner Meinung nach am Beginn einer sehr wichtigen Revolution, und die Musikindustrie weiß nicht recht was sie mit dieser Revolution anfangen soll. Da ist die Kunstwelt sehr viel interessierter und offener. Diese Revolution liegt begründet in der Tatsache, dass wir mittlerweile aus allem Musik machen können. Während der letzten 0,5 Millionen Jahre war Musik immer eine Art Nachahmung. Hätte ich vor 15 Jahren Musik über einen Club machen wollen, hätte ich die Bewegungen der Tänzer mit meinen Melodien beschreiben und die Geräusche im Raum mit Instrumenten nachbilden müssen. Heute kann ich mir einfach ein Mikrofon schnappen, in das Gebäude reingehen, diese Geräusche aufnehmen und sie explizit zu Musik verarbeiten. Das bedeutet, dass man aus jedem Material Musik machen kann. Es ist wie der Schritt vom Gemälde zur Videokamera in der bildenden Kunst. Musik kann jetzt Dokumentation sein, man kann Musik über den Brexit machen, über die Revolution in Syrien, aus Zitaten von Politikern und den Geräuschen, die ein Schwein auf der Schlachtbank macht. Die Musikindustrie ist nicht besonders interessiert an dieser tiefgreifenden Veränderung. Und sie ist wahrscheinlich auch nicht besonders fähig, darüber zu reflektieren und zu diskutieren, weil sie so sehr damit beschäftigt ist, Jack Daniels und Festivaltickets zu verkaufen. Musik ist mittlerweile zu einem derartigen Soundtrack des Konsums geworden, dass es schwer vorstellbar ist, dass sie sich davon lösen könnte.

Aber existiert das Problem der Kommerzialisierung und dem daraus resultierenden Mangel an Originalität nicht auch in der zeitgenössischen Kunstwelt? Man denke an Superstar-Künstler, die durch schnell getaktete  Messetermine und die Anforderungen von Galeristen und Sammlern teilweise wie am Fließband neue, homogene Werke produzieren müssen.
Ich verstehe nicht gut genug, wie das alles funktioniert.  Allerdings würde ich sagen, dass in der bildenden Kunst nicht diese explizite Omnipräsenz von Marken herrscht. Es gibt immer noch Veranstaltungen wie den BP Portrait Award – eine Ölfirma, welche die Förderung nationaler Kunst als Weg nutzt, sich selbst zu legitimieren – , aber es ist nicht alles von diesem Firmenglanz überzogen. In der Musik ist es mittlerweile unmöglich, eine Show ohne Sponsoring zu finden. Wo auch immer man hingeht, sieht man Logos, Partner, Markennamen. In der bildenden Kunst findet man das nicht so häufig, weil Logos wirken wie Verschmutzungen. Wenn man ein Werk betrachtet und kritisiert, jede einzelne sichtbare Geste studiert, und dann irgendwo ein Logo zu sehen ist, wird es in gewisser Weise Teil der Arbeit. Musik hingegen ist unsichtbar, deshalb ist es viel einfacher für Unternehmen, sich mit ihren Autoren zu assoziieren und die Musik auf ihre Marken zu übertragen. Aber das ist nur eine oberflächliche Einschätzung, vielleicht läuft es hinter den Kulissen in der bildenden Kunst genauso schlimm ab.

Sie nehmen Ihre Songs anlog auf, und auch die Fotografien von Chris Friel, mit dem Sie unter anderem für Ihre Alben „One Pig“ und "A Nude (The Pefect Body)" zusammenarbeiteten, wirken sehr analog. Schlägt sich diese Vorliebe in Ihrem Kunstgeschmack nieder?
Als Beobachter von Kunst bin ich allem gegenüber offen, von Skulpturen bis hin zu Dingen, die man auf seinem Twitter-Feed sieht. Meine Vorliebe für das Analoge lässt sich mehr mit dem Schaffensprozess begründen. Mir gefällt die Herausforderung, die Materialien einem stellen, ich mag es, physisch mit der Welt zu interagieren. Ich bin mit Pinseln und Musikinstrumenten aufgewachsen. Es ist fast so etwas wie die künstlerische Version von körperlicher Arbeit. Bei einem weißen Stück Papier, beim ersten Pinselstrich geht es um Verbindlichkeit. Man hat bereits so viele Entscheidungen getroffen, bevor man den ersten Schritt tut. Ausschließlich digitale Prozesse hingegen haben etwas so Unlimitiertes an sich – ich kann einfach meinen Laptop anmachen und aus allen möglichen Bestandteilen alles Mögliche machen – ,  dass man davon schnell überwältigt wird und dann im Endeffekt einfach die Version einer Idee reproduziert, die schon mal jemand anderes hatte. Software ermutigt einen, das zu tun. Aber vielleicht wird sich das in 20 Jahren, wenn wir uns an all diese neuen Möglichkeiten gewöhnt haben, auch ändern.

Auf der Whistable Biennale für zeitgenössische Kunst haben Sie eine besondere Dinnerparty veranstaltet. Können Sie mir etwas mehr über dieses Projekt erzählen?
Mein nächstes Album wird ein Buch sein: die Beschreibung eines Albums, das ich nie realisieren werde. Die Whistable Biennale wollte Teil dieses Projekts sein. Sie mochten die Idee einer imaginären Arbeit, deshalb druckten wir für die Biennale ein Kapitel. Bei dem Dinner hörten wir den Leuten dabei zu, wie sie aßen und schlürften und nahmen sie dabei auf. Wir baten sie, das Essen und seine Geschichte zu hören, sich die Essgeräusche anderer Personen vorzustellen … Tonaufnahmen sind ein so neues Medium, es gibt sie erst seit ein paar hundert Jahren, und die meiste Zeit davon haben wir Radiosendungen gemacht, in denen Menschen sich unterhalten oder Alben, auf denen Musik zu hören ist. Geräusche sind da ein neues Arbeitsmaterial. Die meisten Menschen haben noch nie gehört, wie eine industrielle Hühnerfarm oder ein industrieller Schlachthof klingt, oder wie ein Big Mac gemacht wird – es sei denn, sie arbeiten bei McDonalds. Es ist eine Art unsichtbare Welt, wir sehen zwar die Fotos und wissen, wie diese Dinge aussehen, aber wir haben keine wirkliche Ahnung davon, wie sie klingen. Klang ist eine neue Art mit der Welt zu interagieren, und das fühlt sich aufregend an – als würde man etwas Neues erschließen.

Nahrung scheint für Sie ein essentielles Thema zu sein – vor einigen Jahren fertigten Sie eine Tortillia-Schallplatte an, auf dem Album "One Pig" hört man das Leben eines Mastschweins bis hin zu seinem Verzehr und auch auf "Plat du Jour" sind Essgeräusche zu hören.
Ein Grund dafür ist, dass die Lebensmittelindustrie weltweit am meisten Öl verbraucht. Wenn wir also über Klimawandel reden, reden wir darüber, was wir essen. Die Entscheidungen, wo wir essen, warum wir essen und wie viel wir essen sind alle untrennbar verbunden mit unserem Überleben als Spezies. Erstens fressen wir uns also auf gewisse Weise zu Tode, und zweitens ist es eine kulturelle Frontlinie, etwas, das wir dreimal am Tag tun müssen. Deshalb ist der Blick auf die Entscheidungen, die eine Gesellschaft bezüglich Nahrung trifft, eine großartige Art und Weise, über sie zu reden. Drittens werden wir zu dem, was wir essen. Es ist kein Wunder, dass die Amerikaner beginnen, wie Hamburger auszusehen. Wir absorbieren diese Geschichten, das ist wenn man so will ein spiritueller Prozess. Es ist ein Zusammenkommen von Geschichte, Genuss, Familie, Mythologie. Es sollte dabei um Leben gehen, doch es geht auch oft um Dinge wie Tod und Gefahr, deshalb bietet es einen sehr nützlichen Rahmen, um über Themen zu reden, die adressiert werden müssen.

Warum ist Kunst ein gutes Medium, um derartige Themen anzusprechen? Was kann Kunst für die Politik tun?
John Cage sagte einmal, jedes grandiose Kunstwerk sei ein Beschwerderuf. Aber ich denke, dass Kunst nur einer von vielen Wegen ist, sich politisch zu beteiligen. Es ist nach wie vor wichtig, auf die Straße zu gehen und zu protestieren, an ein Parlamentsmitglied zu schreiben, sich in seiner Nachbarschaft zu engagieren, sich über Weltgeschehen zu informieren, den Zug zu nehmen anstatt zu fliegen, Menschen mit Respekt zu begegnen. Für mich sind meine Arbeiten Bestandteil einer breiteren Art zu leben, die meiner Meinung nach sehr wichtig ist. Dem Akt des Kunstschaffens liegt die Implikation zugrunde, dass die Welt nicht in Ordnung ist. Wenn sie es wäre, müsste ich keine Kunst mehr machen. Gäbe es schon alle Variationen von Musik, müsste ich keine mehr machen. Wären wir zufrieden mit all den Büchern, die es bereits gibt, müssten wir keine neuen mehr schreiben. Der Akt der Kreation ist eine Art stillschweigendes Eingeständnis, dass die Welt auf irgendeine Art und Weise besser sein könnte. In diesem Sinne ist eigentlich jede öffentliche Geste politisch, und ich stimme George Orwell absolut darin zu, dass sogar die Entscheidung, unpolitische Arbeiten zu schaffen letzten Endes politisch ist. Deshalb denke ich, dass das Schaffen von Kunst genauso politisch ist wie die Wahl der Schuhe, die man trägt, und die Entscheidung, ob man eine bestimmte Person auf der Straße grüßt. Ich sehe keine Grenze zwischen Kunst und alltäglichem Leben. Für mich fühlt es sich so an, als hänge alles zusammen und ich denke, dass es wichtig ist, dass wir keine Grenzen um unsere Aktivitäten ziehen, sondern versuchen, sie ganzheitlich zu betrachten.