Erdkunde

 

Die letzten Wochen vor der Wahl waren in den USA eine einzige Depression. Der Börsencrash und das Verschwinden von Lehman Brothers in einem Pleiteloch, die plötzliche Gewissheit, dass das alles kein schlechter Traum, sondern Realität war. Der 4. November wurde gerade für New York zum alles entscheidenden Datum, zu dem Tag, der zeigen würde, ob der Rückfall der USA, die der Galerist Gavin Brown mit dem späten Rom gleichgesetzt hat, ins Mittelalter noch verhindert werden kann.


Der kleine alternative space E-Flux von Anton Vidokle in der Lower East Side versammelt in diesem Klima unter anderem Martha Rosler, Paul Chan und Natascha Sadr Haghighian in der exzellenten Ausstellung „Out Now!“ zu einer Art künstlerischem Klassenausflug in Amerikas Kriegsgebiete. Rirkrit Tiravanija verteilt dort kostenlos T-Shirts mit der Aufschrift „no no no america“, mit denen in der Krise selbst Hausfrauen in Chinatown herumlaufen können, ohne auf Widerspruch zu stoßen.


Die progressive Universität New School mit ihren neuen Luxusausstellungsräumen an der 13th Street und das Projekt „Creative Time“ in der imposanten Militärparadenhalle der Armory veranstalten derweil regelrechte Blockbusterausstellungen zum Thema aktive Demokratie und ziviler Ungehorsam. Terence Koh hat hier einen ominösen chinesischen Künstler erfunden, der die USA als „history“ abtut und Obama im Löwenfell-Afrogewand zur Heilandsfigur stilisiert.


Am Wochenende vor der Wahl ist Marathon in New York, Halloween und Party auf allen Straßen, vor allem aber auf dem Dach des Chelsea Hotel. Chloë Sevigny erscheint im Midwestern-Babydoll, Rufus Wainwright gibt einen Torero, und die Teilzeit-New-Yorkerin Pipilotti Rist kommt als islamistische Terroristin. Ich möchte als Obama gehen, aber das ist wohl politisch nicht korrekt, auf jeden Fall verkauft mir die Frau im Halloweenladen keine dunkle Gesichtsschminke. Vielleicht ist deswegen Sarah Palin mit Brille und Dutt das am häufigsten gesehene Kostüm.


In der Wahlnacht ist fast die gesamte Kunstszene in Gavin Browns Galerie versammelt. Man kann und will nicht allein sein an diesem Abend. Mitten in der Ausstellung des Szenelieblings Jonathan Horowitz sitzen sie alle auf Teppichen und Kissen:  Elizabeth Peyton, Rob Pruitt, Jeremy Deller, Alison Gingeras, Carol Greene, Dirk Skreber, die Modedesignerin Cynthia Rowley und eine der berüchtigten Olsen-Schwestern im Arm von Nate Lowman.


An den Galeriewänden hängen die Porträts der bisherigen US-Präsidenten. Am Ende der Reihe ist ein Platz frei. Darunter lehnt ein gerahmtes Bild, das von Obama. Unter der Galeriedecke hält ein Netz Hunderte von Ballons in Blau und Rot. In der Mitte des großen Raumes hängen zwei riesige Flatscreenmonitore von der Decke. Auf dem einen berichtet der liberale Sender CNN, auf dem anderen laufen die eher rechtspopulistischen Fox News. Eine große Bronzeskulptur von Hillary Clinton geht in der Menge von über 200 Kunstinternen im Wahlfieber ziemlich unter.


Um 23 Uhr ist alles klar, McCain und Palin akzeptieren die Niederlage, Obama spricht in Chicago. Alle jubeln, das Obama-Porträt wird feierlich von Horowitz an die Wand gehängt, der Jubel wird noch größer, die Ballons fallen von der Decke, nach 20 Minuten sieht der Raum aus wie nach einem Erdrutsch. Die Party zieht weiter. Rom hat noch eine letzte Chance.

 

Klaus Biesenbach ist Chefkurator im

Department of Media am Museum of Modern Art in New York.