Epochaler Band "Art and Queer Culture"

Die Geschichte des Andersseins

Als der Künstler Jack Pierson 2006 eine New Yorker Galerieausstellung kuratierte, nannte er sie „The Name of this show is not GAY ART NOW“. Das Thema sei mehr oder weniger passé, meinte er. Es sei nur so viel zu sagen, dass sich die Arbeiten der (nicht durchweg homosexuellen) präsentierten Künstler um Sensibilität und Gesellschaft drehten. Das trifft auch auf den epochalen Band „Art & Queer Culture“ zu. Statt die Mauern eines Ghettos hochzuziehen, erkunden die Herausgeber Catherine Lord und Richard Meyer – Letzterer hat zuvor ein viel beachtetes Buch über Zensur und Homosexualität in der US-Kunst des 20. Jahrhunderts geschrieben – den Einfluss der queer culture auf die Kunst der vergangenen 125 Jahre.

Die kommentierten Werke in dieser erstmaligen Bestandsaufnahme weithin verdrängter Phänomene stammen aus der Zeit von 1883 bis heute. Grenzen zwischen Hochkultur einerseits und Amateurwerken oder Aktionsplakaten andererseits werden nicht gezogen. Das gilt selbst für Werke aus Zeiten, in denen solche Unterscheidungen noch zementiert waren. Zentrale Figuren für die Emanzipation Homo-, Bi- und Transsexueller, wie Aubrey Beardsley, Tom of Finland, David Wojnarowicz, Felix Gonzalez-Torres, Zoe Leonard oder Mickalene Thomas, bilden hier die Mehrheit der Urheber, von denen über 250 Schlüsselwerke in dem Band versammelt sind. Doch auch Heteros wie Pablo Picasso, Nan Goldin oder Charles Ray werden nicht ausgegrenzt.

In ihren einleitenden Essays beschreiben Meyer und Lord die historische Entwicklung alternativer Formen der Sexualität. Die Entdeckung der Homosexualität als Identität (statt als Vergehen) durch Künstler wie Oscar Wilde oder Wissenschaftler wie Magnus Hirschfeld findet dabei ebenso Erwähnung wie die indirekte Selbstdarstellung von Lesben und Schwulen in Gesellschaften, in denen sie auf Feindseligkeit stoßen, außerdem die Aids-Krise der frühen 90er sowie die enttabuisierte Debatte über Genderfragen in jüngerer Zeit. Zu dieser neuen Lässigkeit passt im Kunstteil etwa Lukas Duwenhöggers „Celestial Teapot“ (2006/07). Der mit Klischees spielende Vorschlag für das Homosexuellen-Mahnmal in Berlin steht neben Elmgreen & Dragsets eher bravem Siegerentwurf.

Auch die Quellen im hinteren Buchdrittel machen deutlich, dass sich die Geschichte des Andersseins immer in Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft und dem Establishment entfaltet, vom Gespräch zwischen Oscar Wilde, der wegen „Unzucht“ verklagt wurde, und seinem Anwalt, bis zu einem Artikel des Künstlers Wu Tsang zur Whitney-Biennale 2012. Dazwischen tun sich Welten auf.

Catherine Lord, Richard Meyer (Hg.): „Art and Queer Culture“. Auf Englisch. Phaidon Verlag, 432 Seiten, circa 54 Euro