Künstler Henrik Schrat über die Euro-Krise

"Dass ich das erleben darf ..."

Herr Schrat, seit Ausbruch der Euro-Krise schwirren unglaubliche Zahlen durch den Raum. Können Sie erklären, was da passiert?
Das versteht niemand genau. Wir haben es bei der aktuellen Finanzwirtschaft mit einem Netzwerk zu tun, bei dem die Informationsflüsse so komplex sind, dass man sie nicht mehr einzeln nachvollziehen kann. Die Ökonomie hat bisher versucht, die Abläufe mithilfe der Mathematik zu erklären. Inzwischen ist offensichtlich: Das geht nicht. Auf kuriose Weise könnte hier der Künstler ins Spiel kommen, weil der besser mit Ambivalenzen operieren kann.

Was hat dieses System heiß laufen lassen?
Die Idee des Kredits. Der Mensch will immer mehr, eins, zwei, drei, vier … Der Kunst- und Medienwissenschaftler Stefan Heidenreich hat das den Imperativ des Zählens genannt. Die Geldmenge erblickt als Kredit das Licht der Welt: Wenn vier Leute 100 Euro weiterverleihen, hat man plötzlich 400 Euro Zahlungsversprechen. Früher erhielten nur Unternehmer Kredite, um neue Produkte zu entwickeln. Dass der Konsument Geld geliehen bekommt, um das Zeug zu kaufen, ist erst seit den 70er-Jahren denkbar. Am Ende dieser Entwicklung, vor der Finanzkrise 2008, konnten die Amerikaner nur noch die Zinsen der Kredite mit ihrem Einkommen bedienen, Banken nahmen die Wertsteigerung des gekauften Objekts als Sicherheit – dieses Schneeballsystem kam im Crash zum Halten. Aber ich glaube, dass wir jetzt, am Ende des realen Kredits, eine Art Zahlenreligiosität entwickeln. Wir müssen weiterzählen, das ist eine kulturelle Frage. Wenn man damit aufhörte, träte man aus der Kultur des Abendlandes aus.

Empfinden Sie die Finanzkrise als apokalyptisch?
Gar nicht. Ich bin glücklich, dass ich das erleben darf. Wir haben in den vergangenen 15 Jahren durch die Globalisierung und Digitalisierung eine fundamentale Veränderung der Datenströme gehabt. Dass das Konzept der Nationalstaaten, das aus dem 19. Jahrhundert stammt, mit einer übergreifenden, horizontalen Geldpolitik massiv kollidiert, ist klar. Gleichzeitig war der Reichtum noch nie so ungerecht verteilt wie heute. Der arabische Frühling bildete das erste Anzeichen, was mit einer veränderten Informationsstruktur machbar ist, das wird noch weiter durchschlagen in den Westen. Ich bin überrascht, wie harmlos das mit Occupy bislang abläuft.

Ist die Bewegung sinnvoll?
Sie setzt ein wichtiges Signal. Diese ganz pragmatische, simple Schlaufe, dass Politik auf die öffentliche Meinung reagiert, muss man nutzen. Allerdings sollte man den Kapitalismus nicht nur als Feind wahrnehmen. Die „Dialektik der Aufklärung“ hat da 50 Jahre lang den Blick verstellt. Das ist komplizierter und auch spannender. Wenn man etwas verändern will, muss man sich tiefer hineinbegeben.

Henrik Schrat, geboren 1968 in Greiz, hat kürzlich an der Business School der University of Essex, Fakultät für Management, promoviert. Sein nächstes Projekt ist ein Comic in Zusammenarbeit mit dem Künstler Dan Graham