Roger Willemsen über seine Geburtsstadt

Bonn direkt

Foto: dpa
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Roger Willemsen 2005 in Köln

Wenn ein Ort seine Zukunft endlich hinter sich hat

Komm heim, sagt die Landschaft, blickt auf zum Flugzeug und breitet die Arme aus. Geziegelte Kirchen, geriffelte Felder, Flecken Mischwalds, sogar Landstraßen samt Straßendörfern, Haufendörfern, Sprengel. Ich lande. Flughäfen bleiben vom Pathos des Heimatgefühls verschont. Auch ist die Landwirtschaft, die meine Jugend prägte, heute desolat, das macht die Kinder blass. Aus den Kohlfeldern sind die Pferdekoppeln von Zahnärzten geworden, der Bauer fährt nur noch aus folkloristischen Gründen Traktor. Gelb ist die Hoffnung: Der Post wurde das höchste Gebäude Nordrhein-Westfalens gebaut, und "Hauptstadt des Eierlikörs" war Bonn eh und je. Außerdem hat Castra Bonnensis, das alte römische Heerlager, nicht nur Beethoven, die letzten linksrheinischen Burgen und den Kussmund im Namenszug, sondern auch lauter Mischkulturen hervorgebracht. So verquickte sich in meiner Schule die rotwangige Landbevölkerung mit den dekadenten Ministerial-Kindern. In die alten Regierungsgebäude aber hat man so lange Ausländerheime, ausländische Vertretungen und internationale Organisationen stecken wollen, bis die Einheimischen fürchteten, Bonn werde die deutsche Bronx. Dabei will man hier eigentlich nur sein, was man war: gemütlich in sich ruhend, unbehelligt, aber mit Grund zu klagen.

Die richtige Antwort auf die Frage "Wie jehdet?" lautet in Bonn immer noch "Muss". Es muss gehen, und Spaß muss sein, das sind urrheinische Imperative. Immer "musste" es gehen: damals, als noch Politiker ihre Futterplätze am Rhein hatten, und heute, da sie weggezogen sind, um Berlin Flamboyanz zu geben und von dort die „Provinzialität“ Bonns zu beklagen. Ach was: Bonn also vereitelte die Selbstentfaltung deutscher Bohemiens wie Klaus Kinkel und Angela Merkel? Und kaum zogen sie weg, wurden sie mediterran? Biste bekloppt?

Ich nehme die Bahn. Noch immer begleitet sie die Ausläufer eines Vorgebirges namens "rheinische Toskana", ein Spargel-Dorado mit Brombeerweinplantagen, Baumschulen, Subzentren aus Baumärkten und Einkaufszentren. Hier und da Fachwerkhäuser, auf ihren Türbalken die Kreiderunen der letzten Dreikönigssänger, mit dem Kreuz im Giebel, so als sei es die Aufgabe jedes Hofes, jedes Baumes, jedes Ackers und jeder Wolke, den Slogan zu illustrieren: "Unser Dorf soll schöner werden".

Ich nehme ein Taxi. Es umfährt den Hofgarten hinter dem prachtvollen kurfürstlichen Bau der Universität. Der Fahrer fragt nach der Hoteladresse.

"Da wollen Sie hin? In dem Hotel fliegen doch die Heiratsschwindler aus den Fenstern!"

Woher er das weiß? Zehn Jahre lang kam ein Herr hierher, umgarnte Frauen, flanierte mit ihnen in den Rheinauen, kehrte zurück ins Hotel, aß gepflegt, liebte sie anschließend stürmisch ...

"Woher wissen Sie das?"

"... und die ließen sich alles abschwatzen. Eines Tages ist dann vorn die Polizei vorgefahren, und hinten ist er aus dem Fenster gesprungen, hat sich das Bein gebrochen, das war’s."

"Und woher wissen Sie das?"

"Ich hab eines seiner Opfer geheiratet."

Ja, Bonn kennt mehr Drama, als die Nicht-Bonner wissen, mehr Dekadenz, mehr Laster. Weder die Verkehrsberuhigung noch die Stadtarchitektur, noch strohfeuerartige Versuche, ihm Urbanität zu verleihen, konnten Bonn je ruinieren, nicht den Alten Friedhof, das Bonner Münster, den Markt mit dem Rathaus, den Bahnhof, auf dessen Stufen Heinrich Bölls Clown zuletzt sitzen bleibt, nicht den Alten Zoll, von wo das romantische Sehnen über den Rhein zieht, gemeinsam mit der Gewissheit, dass Johannes Brahms hier der Liebe lebte und Robert Schumann in Wahnsinn verfiel.

Passé, wie die Demonstrationen, die diese Stadt überzogen, aber weder Notstandsgesetze noch Pershings wegdemonstrierten und die doch der hartleibigen Beharrlichkeit der Bonner Bürger nichts anhaben konnten. Anfang der 70er-Jahre, als Straßenumfragen noch kein Genre waren, machten wir Schülerzeitungsredakteure eine Recherche zur Frage: "Wie gefällt Ihnen Bonn?" Die Antworten damals: "Heimat is Heimat, da kann nix passieren" (ein Angestellter), "Bonn klaaaaasse, ganz klaaaaase, Köln scheiße" (ein Penner), "Ja, Mensch, ich bin ein Beethoven" (ein Aussteiger), "Zu viele Fremde hier" (ein Marktverkäufer), "Lieber nix sagen" (ein Afroamerikaner).

Ein paar Jahre später war ich Nachtwächter in der Stadt und lernte 30 Wachstellen von unten kennen. Im Stollen der U-Bahn-Baustelle sammelten sich nachts die nettesten Penner um ein Feuer. Im Bundespresseamt kam mir auf dem nächtlichen Flur eine barbusige Angestellte entgegen, gefolgt von hoch bezechten Herren, und rief: "Ich kann doch nicht mehr, ich kann doch nicht mehr!" Im Bundeskriminalamt bewachte ich zwei Schlüssel mit dem Anhänger "Carlos Akte", und im amerikanischen Konsulat, wo wir den Botschafter beschützten, legten sich die Patrouillengänger nach Mitternacht unter die Rhododendrenbüsche und machten ihr Nickerchen.

Das nächtliche Bonn war besser als sein Ruf. In der Südstadt lebten noch Kommunen, die mit kollektiver Vaterschaft Kinder zeugten, hinter dem Bahnhof gab es eine Bar mit der rätselhaften Aufschrift "Weltsexreport mehrerer Liebestollen", nicht weit davon das "Maddox", den Club, dessen Besitzer eines Tages von einem Geschichtsstudenten mit einer Machete gefällt wurde, weil er doch die "Verkörperung des Bösen" sei.

Und heute? Aus dem Hofgarten steigen immer noch Marihuanawolken auf, zwei Frauen beschriften auf dem Bauch liegend weißes Papier, die eine rot gelockt und sommersprossig, die andere eine blauhäutige Perserin, abseits drei Türken, die die Frauen schon unter sich verteilt haben. Dazwischen missmutige Klassenkämpfer mit Rucksack, Fußball spielende Mädchen, Sonnenanbeter, Satanisten um eine imaginäre Mitte gedrängt, auch Irokesenschnittträger, ein viriler Liliputaner, eine Marktfrau mit Kurzhaarfrisur, und langhaarige Universitätslehrer schlurfen in Jeansjacken vorüber, abgeklärten Schrittes – wie Bonn, das auch nie hetzt. Ja, die Stadt ist lässig, und sei es auch nur, weil sie ihre Zukunft endlich hinter sich hat.

Dieser Artikel ist erschienen in Monopol Rheinland