Rudolf Herz über seine Duchamp-Skulptur in München

Auf Du und Du mit Duchamp

Am 21. Juni 1912 kam der Künstler Marcel Duchamp in München mit dem Zug aus Paris an: Hier hatte er ein Zimmer gemietet, zehn Quadratmeter groß. Der Konzeptkünstler Rudolf Herz recherchierte nicht nur die Pläne zu dieser Wohnung, er fand auch heraus, bei wem Duchamp in der Barer Straße 65 lebte und wer ihn den Sommer über inspirierte. Nicht genug: Rudolf Herz hat die Wohnung eins zu eins rekonstruiert und auf der Wiese vor der Alten Pinakothek nachbauen lassen. „Le mystère de Munich“ heißt die Skulptur und das parallel erschienene Buch

Herr Herz, Ihre Skulptur besteht aus zehn Zimmern, zum Teil sehr kleine Räume.
Da sind Sie aber schon sehr großzügig. Das sind auch eine Toilette und ein Hausflur dabei. Die Wohnung besteht aus einem großen Wohnzimmer, einem Aufenthaltsraum, aus einer Bettlage, einem Durchgangszimmer, aus einem zweiten Zimmer, einer Küche und aus einer Abstellkammer für das Holz – damals gab es Holzheizungen. In meiner Skulptur ist die Wohnung um 90 Grad gekippt, steht also nicht auf dem Boden, sondern auf einer Seitenwand. Im obersten Zimmer wohnte Duchamp.

Unmittelbar neben dem Wohnzimmer.
Genau, und im Wohnzimmer hatte die Frau des Vermieters August Greß ein Schneideratelier.

Wenn Duchamp nach Hause kam, ratterte die Nähmaschine.
Wenn er in seinem Zimmer war, hat der da nicht nur gewohnt, sondern auch gemalt und nebenan saß die Schneiderin. Wenn Sie sich zwei Zeichnungen von Duchamp aus dem Sommer 1912 anschauen, sehen Sie nicht nur Fäden, sondern auch Fragmente von einer Nähmaschine.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass der Ehemann von Theresa Greß als technischer Leiter für den Oldenbourg Verlag bei der Publikation eines technischen Wörterbuchs beschäftigt war. Hier entstanden Zeichnungen von Maschinen und Motoren. Diese Blätter lagen sehr wahrscheinlich auch in der Wohnung herum und müssen Duchamp inspiriert haben. Und an einer Stelle schlagen Sie eine ziemlich gewagte Kapriole: Theresa Greß soll von Duchamp ein Kind bekommen haben.
Duchamp hatte immer Verhältnisse mit verheirateten Frauen. Das war eine bequeme Sache: Die waren in festen Händen, hatten aber ihre amourösen Abenteuer. Frau Greß kommt mit einem unehelichen Kind in die Ehe mit August Greß und kriegt achteinhalb Monate, nachdem Duchamp München verlassen hat, wieder ein Kind. Ich hab nie behauptet, dass Duchamp der Vater ist, aber das Muster würde passen. Man muss sich mal vorstellen: Die sitzen drei Monate lang Tag für Tag nebeneinander, sie näht, er schläft oder zeichnet. Er geht durchs Zimmer, an ihr vorbei, kommt rein und geht wieder raus. Sie können mir nicht erzählen, dass da überhaupt nix gewesen ist.

Spekulation! Soweit würden Kunsthistoriker niemals gehen.
Die Spielregeln für mein Projekt sind die: eine solide Grundlage für Duchamps Aufenthalt in München zu finden. Mich interessiert sein soziales Umfeld. Wo verlaufen seine Aktionsradien? Er speist uns ja immer mit solchen Formulierungen ab wie „im Hotel gewohnt“, „keine Menschenseele getroffen“. Das ist alles Stuss, wie wir jetzt wissen. Und bei meiner Recherche ist einiges zusammengekommen ...

... die Zeitungsannonce des Vermieters, die Pläne der Wohnung, das bekannte Foto, das der spätere Hitler-Fotograf Heinrich Hoffmann aufgenommen hat und das Sie in Ihrem Buch zu einem Doppelporträt sampeln: Duchamp neben dem Dürer-Selbstbildnis aus der Alten Pinakothek ...
... und gleichzeitig bleiben viele Leerstellen. Mich würde zum Beispiel interessieren, welche Bilder, welche Frauendarstellungen von Cranach dem Älteren ihn in der Alten Pinakothek fasziniert haben. Aufgrund der neuen Fakten lässt es sich jetzt besser spekulieren. Aber man darf Fakten und Fantasie nicht miteinander vermischen. Ich halte das sauber auseinander. In dem Buch sage ich nur an manchen Stellen: Das wäre auch denkbar.

"Duchamp – Le mystère de Munich" wird am 21. Juni um 19 Uhr auf der Südwiese Alte Pinakothek, bei schlechtem Wetter in der Rotunde der Pinakothek eröffnet und wird bis zum 30. August 2012 zu sehen sein. Das Buch erscheint im Moser-Verlag und kostet 59 €. Am 28. Juni findet in der Pinakothek der Moderne von 12.30 Uhr bis 20 Uhr ein Symposium zu Duchamp statt. Am 20. Juli um 21 Uhr strahlt Bayern2 „Der kalte Sommer 1912“ aus. Bis zum 19. Juli zeigt das Lenbachhaus die Ausstellung "Macel Duchamp in München 1912"